Clara Viebig
Die Goldenen Berge
Eine Analyse ausgewählter thematischer Schwerpunkte
Klaus A. Sebastian Mai 2012
Inhaltsangabe
Zu Inhalt und Form Stil, Wortwahl, sprachliche Bilder und Symbole |
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Zu Inhalt und Form
Inhaltsangabe
Innerhalb der Epik des Naturalismus stellt der 1928 erschienene Roman Die goldenen Berge von
der als ,deutsche Zolaïde‘ apostrophierten Clara Viebig ein – leider vergessenes – literarisches
Juwel dar. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Winzerfamilie, die durch die
Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und der Währungsreform von 1924 einen
wirtschaftlichen Niedergang erlebt, in dessen Gefolge auch persönliche Erschütterungen
durchlitten werden.
Für Simon Bremm und seine Familie, die so viele Rebstöcke zu bearbeiten hat, dass sie nicht
mehr zu den kleinen Winzern gezählt werden kann, verschlechtern sich die
Lebensbedingungen schon deshalb, weil die beiden ältesten Söhne im Krieg gefallen sind.
Den von der Landschaft und ihrer Arbeit geprägten Menschen fällt es schwer, sich den neuen
Bedingungen anzupassen und in der Folge gerät nicht nur die Familie, sondern die gesamte
Region in eine ausweglose Notlage, der man sich nur durch einen Aufstand erretten kann.
In dieser gesamtpolitisch sehr unruhigen Zeit entwächst Maria, die 17-jährige Tochter der
Familie, der behüteten Jugendzeit und wird von dem jungen, nicht sonderlich vermögenden
Winzer Kaspar Dreis aus dem Nachbardorf umworben. Sie möchte aber dem Schicksal eines
Lebens als Winzerfrau entgehen und nimmt in der einige Kilometer moselaufwärts gelegenen
Kreisstadt eine Stelle als Hausmädchen an. Nach wenigen Monaten entbrennt zwischen ihr
und dem Sohn des Hauses eine heftige Leidenschaft, der weder sie noch der junge Mann
widerstehen können. Maria, schwanger geworden, kehrt wieder zu ihrer Familie zurück.
Deren bedrückende wirtschaftliche Not verstärkt sich jetzt noch, und die Kraft der Eltern
erlischt fast gänzlich, ist die Tochter doch nun Ursache für die gesellschaftliche Ächtung der
gesamten Familie.
Während des Winzeraufstands, der in Bernkastel zur Verwüstung des Finanzamtes, der
Finanzkasse und des verhassten Zollamtes geführt hat, wird Kaspar Dreis, ohne dass er es
selber darauf abgesehen hatte, als eine Art Führer ausgerufen, was ihm aber selber klar
macht, wie notwendig es für die Winzer ist, sich gemeinsam für eine bessere Zukunft
einzusetzen. Der Aufstand hat Erfolg gehabt, die Winzer werden steuerlich entlastet und
erhalten einiges an Aufbauhilfen.
Ein Jahrhunderthochwasser, das 1905 tatsächlich stattgefunden hat, bringt die Menschen in
höchste Gefahr, zerstört darüber hinaus noch den verbliebenen Rest der Existenzgrundlage
der Winzer, worüber Simon Bremm so verzweifelt, dass er einen Selbstmordversuch
unternimmt. Nur dank der Entschlossenheit seiner Ehefrau Anna wird er gerettet und findet
wieder Lebensmut, weil Kaspar Dreis ihn wieder aufrichtet.
Maria hat kurz nach dem Hochwasser einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, der von
der Familie akzeptiert wird. Bescheiden geworden hilft sie ihrem Vater bei der Arbeit im
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Weinberg und gibt Kaspar Dreis, der bereit ist, Marias Kind als seins anzuerkennen, die
Zusage, ihn zu heiraten.
Aufbau, Steigerung
Die Handlungsstränge des Romans bauen stets aufeinander auf und werden immer
miteinander verknüpft, sodass nie isolierte Episoden entstehen. Beispielsweise entwickelt die
in der Kreisstadt wohnende Schneiderin Nettchen Schmitz im Laufe der Handlung je
unterschiedliche Beziehungen zu den Geschwistern Josef und Maria Bremm, wird aber auch
auf natürliche Weise Zeugin von Marias Reaktionen bei der Hochzeitsfeier im Hause
Dousemont, die lineare Darstellung wird zu einem Netzwerk mit teilweise nicht einmal
genannten oder nur vage angedeuteten Verbindungen – z. B. der Schommer mit Jakob
Bremm – verwoben.
Einzelne Figuren wie z. B. Kaspar Dreis verknüpfen den politischen Bereich mit dem
persönlich-privaten oder, wie der Pastor, den religiösen mit dem sozialen. Mit dieser
Verdichtung erreicht Clara Viebig einerseits eine erfreuliche Übersichtlichkeit, andererseits
eine viel genauere und tiefere Zeichnung der Charaktere.
Ein besonders wirksames Mittel zur Betonung der Aussage ist das kontrastive
Gegeneinanderstellen von Personen wie z. B. die Schommer und der Pastor oder Jakob
Bremm und Simon Bremm, aber auch von Haltungen und Einstellungen, wie sie hart und
ohne vermittelnden Erzählerkommentar vorgetragen werden, beispielsweise als Simon
Bremm mit seinem Sohn Josef die separatistische Bewegung diskutiert. Auch Maria
kontrastiert in etlichen Aspekten ihres Frau-Seins mit Nettchen Schmitz.
Eine besondere Spannung wird dadurch erzeugt, dass der Leser in einer Art ,tragischer
Ironie‘ schon lange vor den übrigen Beteiligten von einem Ereignis weiß und die Konflikte
erahnt, die auf das Bekanntwerden folgen. Dies wird sehr intensiv durchgespielt mit der
Schwangerschaft Marias, deren familiäre und soziale Folgen über weite Strecken der
Handlung nicht angedeutet werden, diese aber immer mit einem bedrohlichen Grundton
begleiten.
Auch der Selbstmord, der von einer Nebenfigur als Lösung der ausweglosen Lage ins
Gespräch gebracht wird, verstärkt im Leser das Gefühl für die Last, die die Protagonisten zu
tragen haben und man fürchtet, jemand verschärft die Dramatik, indem er von dieser
Möglichkeit tatsächlich Gebrauch macht. Wie Simon Bremm seine Probleme in seinem
eigenen Wein zu ersäufen versucht, wird nur vorsichtig angedeutet, als ob die Autorin das
ahnende Schweigen der Familie teile.
Beängstigend – und damit eine unterschwellige Spannung erzeugend – sind auch die häufigen
Hinweise auf die Gefährlichkeit der Arbeit in den Weinbergen, sei diese bedingt durch deren
Steilheit oder durch die die Gesundheit schädigende Wirkung der Spritzbrühe.
So weit der Blick über die Moselberge auch schweifen mag, der Fokus des Geschehens ist auf
das Dorf und die nähere Umgebung gesetzt, und je weiter ein Geschehen vom Mittelpunkt
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der Handlung entfernt ist, umso vager wird es geschildert und gewinnt dadurch einen Hauch
von Bedrohlichkeit. Die Weltgeschichte schaut gewissermaßen – wie die damaligen und
heutigen Leser auch – durch das Fenster in die Stuben der Winzerfamilien. Was im fernen
Berlin verhandelt wird, welche Motive die Separationsbewegung in Gang gesetzt hat, das
wird hier durchlebt und durchlitten, das wirtschaftliche Schicksal der hier geschilderten
Menschen erhält einen Namen und macht die politische Stoßrichtung des Romans zu einer
persönlichen Angelegenheit des Lesers.
Stil, Wortwahl, sprachliche Bilder und Symbole
Stellenweise schlägt die Autorin den Leser in Bann, vermittelt selbst mit einer knappen
Skizze ein so intensives Bild, sodass Figuren und Handlung sofort präsent sind.
Clara Viebigs Sprachstil wirkt auf eine angenehme Art unprätentiös, im Gegenteil verleiht ihr
natürlicher und gefühlvoller Sprachduktus ihrem Werk eine gewisse Zeitlosigkeit. Wollte
man ihre Technik genauer beschreiben, käme man wohl zuerst auf ihr Bemühen um
Anschaulichkeit und Klarheit, was sie zu ihren Lebzeiten ja auch zu einer der meistgelesenen
Autorinnen gemacht hat.
Mit sprachlichen Mitteln lenkt sie behutsam die Aufmerksamkeit des Lesers, so als fürchte
sie, ihn während ihres Erzählens zu verlieren. So zeichnet sie mit wenigen Strichen die vor
Hitze glühende Landschaft, die die jugendliche Protagonistin zu einem spontanen Bad in der
Mosel verleitet, lässt diese dann am Ende einen Freudenschrei ausstoßen, dessen Echo in den
Bergen widerhallt und vom Vater weit oben im Weinberg mit verständnisvollem Wohlwollen
vernommen und kommentiert wird. Vom Optischen über das Akustische werden so zwei der
zentralen Pole des Romans – Neigung und Pflicht – nebeneinander gestellt, was sich noch
mehrmals in variierter Form wiederholt. Geburt und Tod beispielsweise werden ganz eng in
Beziehung gesetzt in der Mundener Bergkapelle, wo Anna Bremm einerseits das Grab ihrer
Eltern pflegt und gleichzeitig die Mutter Gottes bittet, ihr Kind, mit dem sie schwanger ist,
gesund und schön werden zu lassen.
Der Musik entlehnt Clara Viebig die Technik des ‚Leitmotivs‘, wenn sie das im Keller der
Bremms liegende Fuder erwähnt, das einerseits den wirtschaftlichen Hintergrund der Familie
darstellt, dann aber auch Auslöser für Unglück und Verzweiflung wird, weil es symbolhaft die
Arbeit und die Berufsehre des Winzers repräsentiert, im negativen Sinne zum reinen
Statussymbol regrediert.
Mit Wortschöpfungen oder den Sprachduktus besonders kennzeichnenden Wendungen geht
die Autorin äußerst sparsam um, einmal, als sie nach einer äußersten Verknappung für die
Darstellung einer komplexen Situation sucht, spricht sie von den ‚Verhaftetgewesenen‘. Viel
häufiger zelebriert sie die ihr eigene Sprachkunst sei es bei Naturschilderungen, wie zum
Beispiel einer Mainacht oder der Mosellandschaft samt ihren Weinbergen, sei es bei der
Darstellung innerer Vorgänge wie beispielsweise der erdrückenden Armut, wie sie bei der
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Bittprozession durch die Weinberge zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. 9). Niemals gerät sie
dabei in Detailverliebtheit, sie bleibt bei aller Anschaulichkeit immer konzis und im Satzbau
übersichtlich. Statt einer präzisen Beschreibung rhythmisiert sie gelegentlich das Sprechen
und reduziert so die intellektuelle Wahrnehmung zugunsten eines gefühlsmäßigen
Miterlebens, was besonders deutlich wird bei der Schilderung einer Autofahrt in einem
wolkenbruchartigen Unwetter (vgl. Kap. 20) oder bei der Darstellung der wachsenden Not
während des Moselhochwassers (vgl. Kap. 19).
Der Anteil der Personenrede ist vergleichsweise gering, und nur recht selten lässt sie ihre
Figuren in ihrer Portener Mundart sprechen, was dann aber die Aussagen umso
eindringlicher macht. Auch das Nicht-sprechen-Können, wo eigentlich ein Geständnis
erwartet wird (S. 135), lässt sie direkt miterleben, das Stottern und Stocken der Protagonistin
überträgt sich im Sprachrhythmus.
Ein großer Teil der Wirkung des Romans beruht auf der souveränen Einbeziehung von
Verweisen auf den transzendentalen Überbau von Geschehnissen oder Zuständen. Dabei
erinnert Clara Viebig an archaische Muster, die in der belebten wie der unbelebten Natur
wirksam sind. Innerhalb der von ihr erschaffenen Welt erscheint der Bereich des Religiösen
ebenso wie Träume, universale Symbole wie z. B. das Ei oder ein biblisches Motiv wie die
Gleichsetzung von Moses mit der (fehlenden und ersehnten!!) politischen Führung des
Gemeinwesens. Der Feigenbaum im Hof des Winzerhauses geriert zum Symbol sowohl des
Auserwähltseins als auch der unauflöslichen Verwurzelung der Menschen in ihrer Heimat.
Die Moselberge verschmelzen mit dem Frieden des Alls zu einer Einheit und ein Mausoleum
wird gleichzeitig Aussichtsturm, ermöglicht einen weiten Blick auf das Diesseitige wie das
Jenseitige gleichermaßen.
Somit erzählt der Roman nicht allein eine Geschichte, dem Leser öffnet sich immer ein
Fenster zu einer höheren Wirklichkeit, das ihn die Ursachen und inneren Zusammenhänge –
sofern sie sich nicht hinter einem Geheimnis verschleiern – erkennen lässt.
Ihre Sprachkunst kennzeichnet Clara Viebig selbst folgendermaßen:
„In der Bewegung der Heimatkunst, die Anfang der neunziger Jahre zur Blüte kam, hatte
ich als Dichterin der Eifel, die bis dahin ein noch völlig unbekanntes Gebiet war, meine
eigene Note, meine unbestrittene Domäne. Aber nicht das Wort Heimat, sondern das Wort
Kunst war für mich das Wesentliche.“ (Aus meinem Leben, Vorwort aus dem Novellenband
‚Heimat‘, 1914 von Clara Viebig, in ‚Clara Viebig, Ein langes Leben für die Literatur‘, S. 33)
Das Soziale
Wirtschaftliche Bedingungen
Clara Viebig zeichnet die Bevölkerung insgesamt als äußerst bodenständig, konservativ und
dank vorbildlicher Seelsorge auf positive Weise religiös ausgerichtet. Für den politischen und
wirtschaftlichen Bereich stellt sich das aber als äußerst nachteilig heraus, denn so wenig
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Kritik über die Ursache des vergangenen Ersten Weltkrieges – durch den die Familie Bremm
immerhin die beiden ältesten Söhne verloren hat – auch ausgesprochen wird, ist man im
gleichen Maße unfähig, sich der geänderten politischen Lage anzupassen. Wahrgenommen
wird eine ‚Unordnung‘, die in erheblichem Maße ‚stört‘, und es sollte alles darangesetzt
werden, die alte Ordnung wieder herzustellen. Möglicherweise basiert der heimliche Wunsch,
ein ‚Führer‘(!) wie Moses (S. 86) bringe alles wieder ins rechte Lot, auf germanischer
Gefolgschaftsethik, der eine dekadente Führungselite eher fremd war.
Diese unbewusste Haltung hat man nicht als Krieger eines Stammes verinnerlicht, sondern
als Winzer, und demzufolge unterwirft man sich wie bereitwillig einer Rangordnung, wie man
eine Bemerkung Marias deuten kann, die klar definiert, wenn man viertausend Stöcke zu
bearbeiten habe, sei man schon ein mittlerer Winzer (S. 8). Die großen Winzer sind die nicht
erwähnten übermächtigen, als ‚Weinherren‘ titulierten Weinhändlerfamilien, die ohne
nennenswerte Kontrollen mit Hilfe kaufmännischer und chemotechnischer Mittel gut
verkäufliche Weine herstellen können und auf die Arbeit der Moselwinzer nicht mehr
ausschließlich angewiesen sind. Wenn der Weinkommissionär Feiden – scheinbar neutral
informierend – erzählt, es stehe schlecht, die Leute hätten kein Geld mehr, um Wein zu
trinken, passt das mit Bremms Vorstellungen nicht zusammen, er kann sich aber nicht
entschließen, seine Ahnung zu überprüfen und eventuell Maßnahmen zu ergreifen. Die
Informationspolitik des Weinhandels verhindert weitgehend, dass sich die Winzer
solidarisieren und selber darüber orientieren, wo die Ursachen für den fehlenden Absatz
liegen, um selber z. B. durch die Gründung einer Genossenschaft Abhilfe zu schaffen (vgl. die
Fragen Bremms, die Anna während der Bittprozession zitiert. S. 82). Das ist bedenklich vor
dem Hintergrund, dass schon am 27.03.1867 auf Initiative Friedrich Wilhelm Raiffeisens das
erste Genossenschaftsgesetz in Preußen verabschiedet worden ist.1
Hauptgrund für den schlechten Absatz war wohl in ungünstigen Jahren die mangelhafte
Qualität der Moselweine, dem der Weinhandel dadurch begegnete, indem er einerseits in
klimatisch begünstigteren deutschen Weinbaugebieten einkaufte oder in großem Maße auch
Wein aus Südeuropa importierte und z. B. mit der Methode des Petiotisierens2 streckte oder
den Wein mittels Verschnitt und Zuckerung so süffig machte, dass er sich leicht absetzen ließ.
Als die wirtschaftliche Not mit den eigenen Ressourcen nicht mehr abgewendet werden kann,
kommt niemanden aus dem Winzerstande ein anderes Mittel in den Sinn, als mit der
‚schwarzen Fahne‘ nach Cochem oder nach Zell zu ziehen. So sind die im Roman
beschriebenen Übergriffe auf Finanz- und Zollamt zum Ersten natürlich der Ausdruck von
Wut und Verzweiflung, zum Zweiten aber auch Zeichen von Unmündigkeit und einem
großen Maß an Unaufgeklärtheit. Vorgeführt wird das liberalistische Marktgesetz, wonach
demjenigen, der eine Ware produziert, nur so viel an Lohn zugebilligt wird, dass er nicht
verhungert.
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Clara Viebig nennt an mehreren Stellen Belastungen für die Winzer, die vor allem in Steuern
und Strafzahlungen bestehen. Auch das Handelsabkommen mit Spanien wird erwähnt, das
als Verrat der Berliner Regierung am deutschen Winzerstand gesehen wird. Da am eigenen
Produkt keine Kritik zu üben ist, richtet sich der Zorn auf die Regierung und deren
Behörden. Die Mit-Verantwortlichkeit des Weinhandels wird nicht gesehen, obwohl letztlich
nicht die Regierung importiert, sondern der Handel, der durch Zollbefreiung indirekt
subventioniert wird. So erhält das Schicksal der Winzer ein Gesicht, freilich ohne es explizit
zu zeigen, was zur Erscheinungszeit des Romans auch nicht unbedingt notwendig war, denn
der zeitgenössische Leser war darüber informiert, wie der (Wein-) Handel funktioniert.3
Auch wenn es heute an der Mosel und anderswo ganz anders aussieht, bleibt als
Grundaussage, dass die erwähnten Handelsabkommen und Subventionen sowie die Steuern
und Sonderabgaben Ursache für den Untergang des Winzerstandes waren.
Wie aktuell die Problematik auch heute noch ist, zeigt sich in der Tatsache, dass
Handelsabkommen und Subventionen die Wirtschaft ganzer Regionen, z. B. afrikanischer,
behindern und damit Ursache für Hungersnöte und menschenunwürdige Verhältnisse
darstellen, sodass auch von dort Prozessionen von Menschen, die eine schwarze Fahne vor
sich hertragen, zu erwarten sind.
Leben im Dorf
Über das, was der Einzelne zu tun oder zu lassen hat, bestehen allgemein anerkannte
Übereinkünfte, und es gibt nur wenig Spielraum für individuelle Auslegungen. Deutlich wird
dies an der alten Schommer, die zwar grundsätzlich als nicht dazugehörig, aber wie ihr geistig
zurückgebliebener unehelicher Sohn immerhin toleriert wird. Ihr gegenüber brauchen
bestimmte Umgangsformen nicht eingehalten zu werden, denn dass sie in eine prekäre Lage
gekommen ist, hat sie sich selbst zuzuschreiben, und wie sie sich und ihren Sohn durchbringt,
ist nahezu gleichgültig. Somit hat diese Frau, obwohl sie im Dorf geboren ist, keine Heimat,
und obwohl sie allein steht, muss sie ohne jede Hilfe mit allen Widrigkeiten fertig werden. Sie
ist das Schreckbild, das Maria vor Augen hat, als sie ihre Schwangerschaft bemerkt.
Näherer Kontakt der Dorfbewohner untereinander ist eher selten, es ist die Kirche, die ein
gewisses Gemeinschaftsgefühl vermittelt, sei es beim sonntäglichen Gottesdienst, sei es bei
den jahreszeitlichen Festen oder z. B. bei der Bittprozession.
Beruflich hilft man sich wohl gegenseitig so gut es geht; man erfährt, dass Bremm sich von
seinem Nachbar Loesenich ein Fuderfass ausleiht, während bei den Arbeiten im Weinberg
jeder für sich arbeitet und Zusammenarbeit u. a. aus Konkurrenzgründen vermieden wird.
Beim Moselhochwasser, das die Familie Bremm besonders hart trifft, schickt der Pastor ein
einziges Mal den Loesenich mit Trinkwasser und einigen Lebensmitteln, aus eigenem Antrieb
kommt lediglich Kaspar Dreis von der anderen Moselseite, aber der hat auch ein besonderes
Motiv.
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Die Familie Loesenich, der es der ,vierzehn lebendigen Kinder‘ (S. 45) wegen besonders
schlecht geht, soll vom Finanzamt die Kuh gepfändet werden, worauf die Nachbarn heftig
protestieren und den Steuerbeamten bedrohen, der sich dann mit dem Wohnzimmerschrank
zufriedengibt. Als aber später die Kuh doch noch weggenommen wird, hat sich das
Aufbegehren gegen die Behörde schon erschöpft, der Widerstand ist erloschen, nur der
Kinder wegen wird geholfen, damit sie nicht verhungern. Loesenich selbst hat sich immer
recht passiv verhalten, weder hat er im Dorf Unterstützung gesucht, noch hat er langfristig
etwas zur Verbesserung seiner Lage unternommen. Als seine Frau schließlich stirbt, werden
die Waisen selbstverständlich von der Gemeinschaft mit Essen unterstützt.
Was hier für das Dorf gesagt ist, gilt analog für die Region, auch für den Winzerstand
allgemein: Erst bei völliger Aussichtslosigkeit findet man sich zu solidarischem Handeln
zusammen, Ziel dabei ist aber eher, das Hergebrachte wieder herzustellen.
Hätte man die Aufgabe anzugeben, was die Verhältnisse im Dorf, das gemeinschaftliche
Leben verbessern könnte, so müsste man wohl zuerst eine Anhebung der Einkommen
nennen, denn viele der offenkundigen persönlichen Fehlhaltungen und sozialen Mängel
rühren aus der absoluten Notlage. Es fehlt aber auch an Offenheit, Unvoreingenommenheit
und Bildung, wodurch eine Anpassung an geänderte Verhältnisse erschwert und Isolation
begünstigt wird.
Politische Haltung
An mehreren Stellen des Romans lässt die Autorin verschiedene Figuren über die soziale
Situation der Winzer sprechen. Diese bezeichnen sich selber zwar als arm, sind aber dennoch
stolz auf die besondere Art ihrer Arbeit. Subventionen und Kredite empfinden sie als
erniedrigend und entehrend, weshalb sie alles daransetzen, Verpflichtungen pünktlich zu
bedienen, auch wenn die nötigsten persönlichen oder betrieblichen Anschaffungen dafür
zurückgestellt werden müssen. Obwohl ihr Denken auf das Ganze des Staates ausgerichtet
ist, erscheinen ihnen die Steuern und Sonderabgaben als ungerecht und unverständlich. Der
immer größer werdenden persönlichen Not dadurch auszuweichen, indem man sich
Separationsbewegungen anschließt oder nach Südamerika auswandert, wird als Alternative
für Feiglinge und Vaterlandsverräter angesehen. So soll der Aufstand in Bernkastel nicht nur
auf die Ausweglosigkeit des gesamten Winzerstandes aufmerksam machen, im Hintergrund
zielt man auch darauf ab, Regierung und Verwaltung in Berlin wieder zu ,richtiger‘
Staatsführung zu zwingen.
Kaspar Dreis, der Sprecher der Winzer, artikuliert die Not der Winzer und der gewünschten
Maßnahmen nicht aufgrund eines Mandats, das ihm offiziell oder per Akklamation
übertragen worden ist, sondern aus einem spontanen Entschluss heraus, dann allerdings mit
erheblicher Zustimmung und Bewunderung. Was daraus deutlich wird, ist eine
interindividuelle natürliche Solidarität, aber gleichzeitig auch das vollständige Fehlen des
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Bewusstseins für die Bildung einer Interessengemeinschaft, die im Austausch mit anderen
Institutionen wie Weinhandel oder Staat Lösungen erarbeitet und umsetzt.
Man verlässt sich im Dorf auf das Berufsethos des Pastors, der als Schreiber aufgrund
kirchlichen Mandats auf seine Weise die Not zu lindern sucht. Aufgerufen wird er erst, als es
gilt, die während der Unruhen in Bernkastel Verhafteten auszulösen. In seinen Augen sind die
Unruhen zwar als Unrecht zu bezeichnen, den Menschen bleibt aber keine andere Wahl.
Charaktere
Wenn gelegentlich behauptet wird, die Landschaft präge den Menschen, so sollte man da
einige Vorsicht walten lassen, denn im Einzelfall würde mancher an einer solchen Festlegung
sicher Anstoß nehmen. Eher zu akzeptieren ist eine solche Kategorisierung in der Kunst, wo
in einer Figur oder in einem Ensemble charakteristische Züge vereinigt und idealtypisch
dargestellt werden. Gerade im Roman werden durchweg Szenarien vorgegeben, in denen
einzelne Personen eine vom Autor festgelegte Rolle durchzuspielen haben, die kaum
Schattierungen aufweist oder spontan eine unerwartete Entscheidung zulässt. Wenn also in
Clara Viebigs Die goldenen Berge ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Landschaft und
den dort lebenden Menschen hergestellt wird, so soll das nicht zu einer Typisierung führen;
die hier vorgestellten Begebenheiten sind zwar in historisch belegte Fakten eingebunden,
folgen aber Gesetzmäßigkeiten, die so oder in ähnlicher Form überall auftreten könnten. Dies
vorausgeschickt, kann man einzelne Charaktere des Romans als Träger bestimmter
Handlungen und Haltungen sehen, die die von der Autorin intendierte Aussage sichtbar
machen.
Clara Viebig unterscheidet sehr deutlich eine Welt der Männer und eine solche der Frauen.
Männer setzen sich mit der Außenwelt auseinander, sei es das Gelände, das Wetter, der Beruf
mit seinen Anforderungen oder letztlich die Politik. In ihrem Bereich erwartet man, dass sie
‚ihren Mann stehen‘ und ihr Bestes geben. Nicht immer sind die Bedingungen so, dass das
Bemühen zum Wohle des Ganzen führt, vielmehr droht immer auch existenzielles Scheitern,
es tritt gelegentlich auch ein. Dann gilt es, die Konsequenzen durchzustehen und mit ihnen
fertig zu werden.
Frauen werden durchweg in einer Opferrolle gezeigt, ohne dass ‚der Mann‘ explizit als Täter
oder Verursacher auftritt, eher kann man feststellen, dass als Konsequenz aus dem ‚Erleiden’
ein ‚Erstarken‘ folgt, denn Clara Viebigs Frauen – nicht nur in diesem Roman – hinterlassen
durchweg den Eindruck von Stärke, ohne dass sie konkret etwas Außergewöhnliches dafür
getan haben. Vielleicht ist es eher das Alltägliche oder das Natürliche, dem sich die Frau
aussetzt und gegebenenfalls noch im Scheitern an Größe gewinnt.
Im Einzelnen soll den verschiedenen Aspekten in den nachfolgenden Charakteristiken
nachgegangen werden, wobei die Gesamtschau ein Bild des Menschen ergibt, das von
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außergewöhnlicher Intensität ist und auf eine Kraft hinweist, die gestaltend auf die
Gesellschaft einzuwirken vermag.
Simon Bremm
Für den Winzer Simon Bremm ist seine Arbeit das Maß aller Dinge. Sein Selbstwertgefühl
hängt in hohem Maße davon ab, wie viel und wie lange er davon leisten kann. Wie alle
Winzer fühlt er sich für die Weinberge der Mosel verantwortlich und ist überzeugt, niemals
ersetzt werden zu können. Das ,Verwurzeltsein‘ drückt Clara Viebig in einem Bild aus, das
ein kleines, aber bedeutendes Nebenmotiv darstellt: Der Feigenbaum in Bremms Hof. Er
steht für die Einzigartigkeit der Landschaft, stellt aber gleichzeitig deren Menschen dar, die
gleichermaßen römische wie fränkische Wurzeln haben. Die Pflanze, die in einem Topf auf
den Schieferplatten vor der Haustür steht, hat längst ihre Wurzeln in das Erdreich getrieben
und kann deshalb nicht vor dem Hochwasser in Sicherheit gebracht werden.
Weil analog zu diesem Bild für die Winzer der Weinbau wegen des engen Tals die einzige
Perspektive ist, können sie auf fallende Erträge nicht anders reagieren, als noch mehr zu
arbeiten. Menschen, die nach anderen Auswegen suchen, werden als arbeitsscheues Gesindel,
Nichtstuer, Verräter und dergleichen beschimpft. Ihre Argumente werden nicht einmal näher
geprüft. Lieber hält man an Vorstellungen fest, die alte Traditionen als gottgegeben und
deshalb unverrückbar anerkennen. Diese Entwicklung deutet sich schon zu Anfang an, als
Simon Bremm seine Kelter liebkost, mit der schon sein Vater und sein Großvater Trauben
gepresst haben. Obwohl es schon solche gibt, die elektrisch betrieben werden, erfüllt es ihn
mit Stolz, sich an ihr so zu schinden, dass ‚man selber aus den Fugen ging fast dabei‘ (S. 19).
Den Weinbergen und dem Wein ist alles unterzuordnen, andere Arbeit, vor allem die, die von
Frauen zu erledigen ist, hat dahinter zurückzustehen, wie eine kleine Geste deutlich macht,
als er den Waschzuber seiner Frau, der in seinem Kelterraum nichts zu suchen hat, mit einem
Tritt wegbefördert (S. 19). Auch die Kinder sind nicht primär um ihrer selbst, vielmehr um
der Arbeit im Weinberg wegen ‚angeschafft’, und den Verlust der beiden ältesten Söhne
betrauert Bremm vornehmlich deshalb, weil deren Arbeitskraft jetzt fehlt. Selbst seine Reue
über das Zerwürfnis mit seinem Sohn Josef wegen dessen Sympathie mit den Separatisten
wird erst ausgelöst, als er ihn in Analogie setzt zu seinem sauren Most, dem gehörig Zucker
zugesetzt werden muss, um ihn zu einer rechten Gärung zu bringen (S. 46).
Bremm hält trotz der gravierenden politischen Umwälzungen an seinen konservativen Idealen
fest. Dabei lösen sich schon im eigenen Betrieb überkommene Strukturen auf: Es fehlen drei
halbwegs erwachsene Söhne; die bisherige Aufteilung in Männer- und Frauenarbeit muss
aufgegeben werden; letztlich bricht einerseits wegen der angespannten Wirtschaftslage,
andererseits wegen der billigen Weinimporte der Handel zusammen. Die Winzer können das
Produkt ihrer Arbeit nicht mehr verkaufen.
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Dieser absoluten Notlage ist Bremm nicht mehr gewachsen, er greift auf das Nächstliegende
zurück und ersäuft seine Hilflosigkeit in seinem 21er Warmenberg und vernichtet auf solch
selbstzerstörerische Weise genau das, was ihm bisher am liebsten und heiligsten ist, was seine
Arbeit und seine Heimat gleichermaßen repräsentiert. Zum gleichen Mittel greift er auch, um
die schlimmste persönliche Verletzung, die er wegen Marias Schwangerschaft erfährt, an
seiner Familie, mehr aber noch an sich selbst, zu vergelten. Sein Vollrausch zeigt zum einen
die Tiefe seiner Betroffenheit über den Fehltritt seiner Tochter, andererseits aber auch die
Begrenztheit seiner Empathie für sein Kind. Die Unfähigkeit zur Empathie äußert sich in
gleichem Maße, als sein Sohn eine andere Meinung darüber hat als er, einen Weg aus der
misslichen wirtschaftlichen Situation zu finden.
Da seine religiöse Bindung nicht sonderlich ausgeprägt ist, kann seine rigide Haltung nur mit
seinem persönlichen Weltbild erklärt werden, das, einem Holzschnitt gleich, nur Schwarz und
Weiß kennt. Mit dieser Haltung erscheint Simon Bremm in seiner Umgebung als
charakterfeste Persönlichkeit, in der Krise allerdings tritt mehr der negative Aspekt, die
Starrheit nämlich, in Erscheinung, die zum Zerbrechen der Persönlichkeit und zur
Unfähigkeit zu sozialem Kontakt führt.
Mit seiner Beteiligung am Bernkasteler Aufstand hat er schon sehr viel von sich aufgegeben,
seine Verhaftung schließlich lässt sein gesamtes Weltbild zusammenbrechen, für den Aufbau
einer besseren Zukunft fehlt ihm die Kraft.
Anna Bremm
Anna Bremm tritt zunächst in ihrer Rolle als Mutter auf, wobei die Sorge für die bei ihr
lebenden Kinder weniger betont wird als die Trauer um ihre beiden im Krieg gefallenen
ältesten und das Bangen um Josef, den drittältesten Sohn, der mit dem Vater in Streit geraten
ist und die Familie verlassen hat. Der Verlust von drei Arbeitskräften fällt bei ihr nicht so sehr
ins Gewicht, für sie zählt viel mehr das Kind, für das sie vor Gott und der Welt verantwortlich
ist.
Nach drei Jungen wünscht sie sich bei ihrer vierten Schwangerschaft zu ihrer eigenen
Unterstützung ein Mädchen, pilgert deshalb oft zum Mundener Friedhof, wo ihre Eltern
begraben sind und betet dort vor dem Bild der Gottesmutter Maria um ein Mädchen. Das
bringt sie dann auch zur Welt, und es wird nach Meinung der Leute auch ein ,bild‘-schönes
Kind, weil die Mutter vor dem ‚Bild‘ der Mutter Gottes gebetet habe. Diese Schönheit ist
dann später der Grund, dass zwischen ihr und einem jungen Mann ein wechselseitiges
Begehren entsteht, dem eine Schwangerschaft folgt. Da aber findet die gewohnte Vertrautheit
zwischen Mutter und Tochter ein Ende; dass sie in anderen Umständen ist, gesteht die
Tochter erst, als es nicht mehr zu verheimlichen ist.
Keiner besonderen Erwähnung bedarf es, dass Anna Bremm alle für Haushalt, Bevorratung,
Vieh, Äcker und Garten notwendigen Arbeiten souverän erledigt. Zusätzlich übernimmt sie
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auch außerhalb der Lese Arbeiten im Wingert und erträgt dort ohne Klage harte Strapazen.
Bei aller Loyalität, die sie gegenüber ihrem Mann an den Tag legt, scheut sie sich doch nicht,
ihn der Kinder wegen zu bestehlen, indem sie von dem für die Steuern zurückgelegten Geld
nimmt, um dafür Brot für ihre Kinder zu kaufen.
Das alles aber macht sie nicht zu einer herausragenden Figur des Romans, es sind mehr die
fraulichen Qualitäten, ihre Liebe zu den Kindern, ihr unbedingter Beistand zu ihrem Mann in
Zeiten der tiefsten Verzweiflung, beispielsweise als er sich zu erhängen versucht hat.
Was für sie und vielleicht für alle am entscheidendsten ist: sie ist tief in der Religion
verwurzelt, sie vertraut auf die Führung durch Gott, und indem sie absolut vertraut, gewinnt
sie auch die notwendige Kraft. Nur so – betont Clara Viebig – hält sie die Familie am Leben.
Maria Bremm
Die 17-jährige Maria bezeichnet zusammen mit ihrem Vater schon im ersten Bild des Romans
dessen entscheidende Problematik, die durch Gegensatzpaare wie Pflicht und Neigung,
Arbeit und Vergnügen, Askese und Lust zu bezeichnen ist. Während der Vater mit Herz und
Seele in seiner harten Weinbergsarbeit aufgeht und allein in ihr seinen Lebenssinn sieht, lehnt
die Tochter ein Leben als Winzerin ab, sie möchte nicht mit vierzig schon eine alte Frau sein,
sie empfindet die Welt, das Leben als schön, möchte eins sein mit allem und sich selbst und
das Leben genießen.
Obwohl der Familie drei erwachsene Söhne fehlen und Marias Arbeitskraft eigentlich im
Betrieb gebraucht würde, übernimmt sie als 18-Jährige in der nahe gelegenen Kreisstadt eine
Stelle im Haushalt des wohlhabenden Witwers Jean Claude Dousemont. Dort entfaltet sie
ihre alles harmonisierende Fröhlichkeit, die sie bei ihrem Dienstherrn zur Freude seines
Alters werden lässt.
Besuch erhält sie etwa ein bis zweimal monatlich von ihrem Jugendfreund Kaspar Dreis aus
dem auf der anderen Moselseite liegenden Dorf Munden. Für ihn ist Maria die einzige Frau,
die er einmal heiraten möchte, allerdings empfindet diese keine Leidenschaft für ihn; ein
freundschaftlicher Umgang muss deshalb aber nicht ausgeschlossen bleiben, was für Maria
als natürliche Selbstverständlichkeit angesehen wird, Kaspar Dreis hingegen aber veranlasst,
die Hoffnung auf eine Heirat nicht endgültig zu begraben. Für einen Winzer aber könnte sie
sich niemals hingeben, eine Heirat brächte sie in genau die Lage, die sie ausdrücklich
vermeiden möchte.
Ihre Ahnung, dass eine unbedingte Gefühlsleidenschaft Grundlage einer dauerhaften und
erfüllten Ehe ist, wird ihr durch die Begegnung mit J. C. Dousemonts Sohn Heinrich zur
Gewissheit. Zwischen ihm und ihr entflammt ganz spontan ein gegenseitiges Begehren, dem
sie sich nicht entziehen kann und will. Allerdings verstört es sie, dass die Bindung, die sie
eingegangen ist, im Alltag nicht gilt, dass Heinrich Dousemont aller erfahrenen Leidenschaft
zum Trotz die Frau heiratet, die er selber als kalt und unnatürlich (S. 68) empfindet.
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An dem, was sie getan hat, kann sie nichts Schlimmes finden, letztlich ist sie nur der
Forderung der Natur gefolgt, hat eine tiefe Übereinstimmung verspürt, die für sie in der
gemeinsam empfundenen Lust bestätigt wurde. Später allerdings fragt sie sich nach dem
Warum ihres Tuns, kann sich weder Quelle noch Ziel ihres Begehrens erklären.
So findet sie sich bald wieder in ihrem Elternhaus ein, verschweigt hartnäckig den wahren
Grund der Kündigung bei J. C. Dousemont und stürzt sich mit großem Eifer in die Arbeit.
Es gelingt ihr aber nicht, den Selbstvorwürfen zu entkommen, und gerade, als der Gedanke,
das Kind abzutreiben, in ihr hochsteigt, entdeckt sie im Weinberg des verstorbenen Jakob
Bremm die dort verscharrte Leiche eines Kindes, was ihr die Ungeheuerlichkeit ihres
Vorhabens unmittelbar vor Augen führt. Jetzt ist selbst diese verzweifelte Lösung unmöglich
geworden, und in ihrer Ausweglosigkeit geht sie endlich zur Beichte und erfährt von dem
alten Pastor doch so viel Trost, dass sie wieder neuen Lebensmut fasst und Scham und
Schande zu ertragen bereit ist.
Nach dem Moselhochwasser bringt Maria einen gesunden Jungen zur Welt, der von ihren
Eltern und Geschwistern angenommen wird. Auch Kaspar Dreis ist bereit, den Jungen zu
adoptieren, wenn Maria in eine Heirat einwilligt. Das tut sie auch, bittet sich aber noch ein
Verlobungsjahr aus, in dem sie – wie sie sagt – beweisen will, dass sie Kaspars würdig ist,
mehr aber doch, weil sie die Zeit noch braucht, um die Bindung zum Vater ihres Kindes
innerlich zu lösen. Denn vorher, das spürt sie instinktiv, ist sie nicht in der Lage, eine neue
Verbindung einzugehen.
Maria, die nie Winzerin werden wollte, ist, um ihrem Schicksal zu entgehen, in die Kreisstadt
gezogen, und hat dort die höchste Lust erfahren. Sie erleidet dann aber schlimmste seelische
Qualen, aus denen sie lernt, einen maßvollen Mittelweg einzuschlagen. Wie als ob sie
Versäumtes nachholen müsste, beginnt sie ihren Weg mit einer Lust, die selbst ihr Vater nicht
zu deuten versteht.
Kaspar Dreis
Auf der Porten gegenüberliegenden Moselseite liegt Munden, der Heimatort Anna Bremms
und gleichzeitig der von Kaspar Dreis. Damit gewinnt diese ‚andere Seite‘ eine besondere
Färbung und tatsächlich findet sich hier ein vom Alltag unterschiedener Bereich, von dem aus
gelegentlich sowohl praktische vor allem aber spirituelle Hilfe nach Porten hinübergelangt. Es
ist vielleicht die schon seit der Zeit der Römer bestehende hoch über dem Dorf gelegene
Begräbnisstätte, die diesen Ort auszeichnet, fast könnte man sagen, hier rufe man die Geister
der Verstorbenen an, sei es als Zeuge, sei es um Hilfe.
Kaspar Dreis erscheint demnach wie ein Abgesandter von guten Geistern, denn er leistet
vielfältige Hilfe nicht nur im persönlich-familiären Bereich, sondern in der gesamten Region.
Zunächst befreit er Maria aus einem unglücklichen Schicksal als ledige Mutter, indem er an
seinem Heiratsversprechen festhält. Simon Bremm und seiner Familie hilft er nicht allein mit
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Geld aus, er ist auch neben der einmaligen Hilfe auf Initiative des Pfarrers der einzige, der
während des Hochwassers den Eingeschlossenen Wasser und Nahrung bringt. Zuletzt
beeinflusst er durch seine Ansprachen und sein vorbildliches Verhalten den Aufstand der
Winzer und lindert damit die Not des gesamten Berufsstandes.
Er stellt mit seiner Hinwendung in die Zukunft den Gegenpol zu Simon Bremm dar, der das
Alte vertritt und sich neuen Entwicklungen gegenüber nicht anpassen kann. Die Verbindung
Marias mit Kaspar kann als Synthese von Lustprinzip und Arbeitsethos angesehen werden,
eine Paarung, die einen allgemein richtigen Weg markiert. Praktisch wird dies angedeutet
durch den Umstand, dass Kaspar Dreis das vom Priesterseminar zu Trier ausgeschlagene
Erbe des Jakob Bremm, den Zuckerberg, übernimmt und somit das, was durch Geiz
zugrunde gerichtet worden ist, durch Arbeitslust wieder zu Blüte gelangt.
Josef Bremm
Der gelegentliche Verweis, Josef sei Annas Lieblingssohn, lässt vermuten, dass er innerhalb
der Personenkonstellation eine besondere Funktion erfüllt. Man kann mit Recht vermuten,
dass Clara Viebig mit dieser Figur ein Schlaglicht auf eine unterdrückte Seite der Mutter
werfen will, denn es ist ja die Unfähigkeit, den eigenen Standpunkt zu vertreten, die bei ihr
zum Ausdruck kommt. Es ist das größte Manko dieser Frau, dass sie sich gegen den
Ehemann nicht aufzulehnen wagt, ihre und die Interessen der Familie nicht artikuliert und
durchzusetzen sucht. Sie ist Opfer der nicht anders bekannten Sozialisation, als deren Ideal
die Unterordnung angesehen ist. Allerdings spürt sie den Zwiespalt, weil sie selbst in ihrem
häuslichen Bereich und in ihrer Zuständigkeit für die Kinder letzten Endes dem Willen des
Mannes unterworfen ist. Trotz ihrer persönlichen Stärke behindert sie ihre geringere Bildung
und ihre Unerfahrenheit in wirtschaftlichen und politischen Belangen. Dieser Mangel wird
durch die kindlich-unüberlegte Hinwendung Josefs zu den Separatisten ausgedrückt. Wie
seine Mutter unterscheidet sich Josef nicht in der Zielvorgabe, sondern nur in der Art, diese
zu erreichen. Das allerdings reicht aus, den Sohn des Hauses zu verweisen, und wenn der
sein Elternhaus verlässt und sich in eine ungewisse Zukunft verliert, so wird damit auch das
Schicksal der Frau präformiert. Die muss Haus und Kinder verlassen, wenn sie nicht bereit
ist, die absolute Dominanz des Mannes zu akzeptieren.
Dieser Ausgestoßene trifft auf seiner Wanderschaft dann in schicksalhafter Weise auf
Nettchen Schmitz, die diese Begegnung nutzt, um ihren Wunsch nach einer Schwangerschaft
zu erfüllen. Ihrer Tochter gibt sie später in liebevoller Erinnerung dann den Namen Josefine.
Ob der Vater allerdings jemals von seiner Tochter erfahren und ob er mit der Mutter seiner
Tochter eine Verbindung eingehen wird, steht außerhalb der Geschichte; sein guter Charakter
und seine Bereitschaft, völlig neue Wege einzuschlagen, lassen allerdings einige Hoffnung
entstehen.
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Jakob Bremm
Dieser Junggeselle liefert das ins Groteske übersteigerte Bild eines auf seinen Weinberg
fixierten Winzers, dessen Selbstsucht zu einem gefährlich verzerrten Weltbild geführt und ihn
aus der dörflichen Gemeinschaft ausgeschlossen hat. Die einzigen, die von seinem Geiz
profitieren, sind die alte Schommer und ihr behinderter Sohn, die sonst nirgendwo Anstellung
finden und nur von ihm einen geringen Lohn erhalten, möglicherweise weil es in der
Vergangenheit einmal näheren Umgang gegeben hat.
Sein übersteigerter Geiz lässt ihn sogar auf den Kontakt zur Verwandtschaft verzichten, und
da er seinem Neffen Simon seinen Weinberg nicht gönnt, setzt er in seinem Testament als
Erben ein kirchliches Weingut in Trier ein. Die Inflation lässt den ehemals reichen Winzer
aber nahezu gänzlich verarmen, sodass er sich, ohne es vielleicht bewusst zu wollen, in einem
ekstatischen Taumel selber umbringt (S. 108).
Pastor und Schommer
Der alte Pastor gehört mit zu den positiven Figuren des Romans, und sein stilles Leiden und
Wirken im Hintergrund der Handlung verstärken die Aussagen über die Armut des Dorfes,
beispielsweise als er seinen Tod herbeisehnt, weil er nach dem Tod der Frau Loesenich die
Not der Kinder nicht mehr ertragen kann. In seiner Funktion als Seelsorger fördert er dann
auch Marias innere Not zutage, als er Frau Bremm darauf aufmerksam macht, dass Maria
schon seit längerem ohne Beichte geblieben ist. Dieser Greis verkörpert wohl die ideale
Verbindung zwischen Religion und praktischer Seelsorge, die so uneingeschränkt vorgestellt
wird, dass man förmlich nach dem Gegenpol sucht.
Dieser findet sich in der alten Schommer, einer ledigen Mutter, die außer ihrem unehelichen,
geistig behinderten Sohn keine Verwandten im Dorf hat. Während der Erntearbeiten in
Jakob Bremms Zuckerberg stürzt sie und schlittert hangabwärts (S. 30), was – vor allem
wegen des sexuellen Einsprengsels – durchaus symbolisch dahingehend verstanden werden
kann, dass Jakob Bremm der Vater ihres Kindes ist. Simon Bremm duldet sie nicht in seinem
Haus: Er hat weder Verständnis für ihren Fehltritt, noch kann er ihre Lebensführung mit
seinem Arbeitsethos vereinbaren.
Die Schommer ist die einzige, die vorbehaltlos andere besucht, zuhört und selber erzählt. Sie
tut es nicht allein, um gelegentlich mit jemandem zu sprechen, sondern auch notgedrungen,
denn da sie praktisch über keine Einkünfte verfügt, ist sie auch darauf aus, sich etwas zu
ihrem und ihres Sohnes Lebensunterhalt hinzu zu erbetteln. Sie erfährt oft als Erste von
unerwünschten Schwangerschaften und offeriert dann ihre Dienste als Engelmacherin.
Die Schommer traut sich nicht oder ist zu anständig, in Porten das eine oder andere zu
stehlen, als sie trotz Bettelns weder für sich noch für ihren Sohn etwas zu essen hat. Sie lässt
ihren Sohn zurück, der sich von Gras und Wurzeln ernährt, und schaut sich in
Nachbardörfern um, findet dort Kartoffeln, Kohl, dringt sogar in einen Hühnerstall ein und
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entwendet ein Huhn. Sie schafft es aber nicht mehr zurück zu ,ihrem Pittchen‘, sie stirbt in
einem Weinbergsunterstand vor Hunger. Clara Viebig zeigt in der Reaktion der Bewohner
des Dorfes, welch mitleidslose und vorurteilsbehaftete Haltung sich diese den Ausgestoßenen
gegenüber angewöhnt haben.
J. C. Dousemont
Der ‚Alte vom Berg‘ zählt zu den Honoratioren der Kreisstadt, seitdem er sich etwas
außerhalb in die Weinberge hinein eine hübsche Villa gebaut hat und es sich mit dem
auskömmlichen Kapital, das er im Laufe seines Lebens als Rheinschiffer gespart hat, gut
gehen lässt.
Gerade das unstete Leben als Kapitän und die lange Trennung von der Heimat4, lassen ihn
diese als ungeheure Kostbarkeit erleben. Hat er vorher sein Leben der Arbeit gewidmet,
wendet er sich jetzt berechtigterweise dem Lebensgenuss zu, er erschließt sich seine Liebe zur
Mosel und zu ihrem Wein, dessen Köstlichkeit er seinem Sohn ausführlich beschreibt.
Er repräsentiert die Haltung des Menschen, der nicht starr in seinen Traditionen verhaftet ist,
sondern in ihnen wurzelnd die Forderungen des Gegenwärtigen erkennt und ihnen folgt.5
Seine Einsicht in die Gesetze des Lebens haben ihn weise gemacht, er lehnt den Tod nicht ab,
vor allem dann nicht, wenn ihm ein erfülltes Leben vorausgegangen ist. Dies bringt ihn in
Konflikt sowohl zu seiner Köchin Lena als auch zu seinem Sohn Heinrich, die sich beide
seiner angeschlagenen Gesundheit wegen Sorgen machen und ihn drängen, sich zu schonen
und von dem geliebten Moselwein abzulassen. Er hat aber erkannt, wie wenig einige
zusätzliche Monate oder gar wenige Jahre zusätzlich ihm noch nützen: Er lebt allein, seine
geliebte Frau ist ihm vorausgegangen, verständlich also, dass er seiner Sterbestunde gelassen
entgegensieht.
Heinrich Dousemont
Gemessen an seiner Bedeutung für das Romangeschehen ist Heinrich Dousemont einem
Kometen zu vergleichen. Er taucht auf wie aus dem Nichts, erhellt mit seinem blendenden
Licht das Dunkel des Bewusstseins Marias, verschwindet wieder und bewirkt deren relativ
schnelle Reifung zu einer starken Persönlichkeit.
Heinrich Dousemont verkörpert die erotische Kraft, die mit ungeheurer Anziehung auf den
Menschen wirkt. Clara Viebig macht das deutlich am Beginn der Vereinigungsszene, als nur
ein roter Punkt (von der Zigarre Dousemonts) im Dunkel des Gartens zu sehen ist, zu dem
Clara Viebig eine Verbindung zur Unergründlichkeit des Geheimnisses der Lust zieht. (S. 78)
Was rein äußerlich so aussieht wie das landläufige sexuelle Ausnutzen des Hauspersonals ist
in diesem Falle von der Autorin ausdrücklich umgekehrt, denn der gemeinsam gewünschte
Verkehr findet im Umfeld einer Kapelle statt, was dem Akt eine Art von Weihe oder gar
Heiligkeit verleiht.
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Auch ist der junge Dousemont nicht als gewissenloser Verführer gezeichnet, vielmehr
erscheint er als ehrgeiziger junger Arzt mit einem hohen Maß an Engagement und
Verantwortungsbewusstsein.
Die Tatsache, dass er nahezu zur selben Zeit stirbt, in der sein Sohn geboren wird, lässt an
das archaische ‚Stirb und Werde‘ des Lebens denken und gemahnt daran, wie wahllos sich
das Schicksal Mittel auswählt, um einem einzelnen Menschen eine Wegmarke zu setzen.
Nettchen Schmitz
Nettchen Schmitz ist die Figur des Romans, die die Leserin und der Leser zu einem großen
Teil aus deren Innensicht wahrnimmt und so eine spezifisch weibliche Betrachtungsweise des
eigenen Körpers erfährt. Der ist selten perfekt und wird nahezu nie akzeptiert. Ein objektives
Bild dieser Schneiderin erhält man nicht, und ob sie von der Männerwelt wirklich nicht
akzeptiert wird oder ob sie mittels ihrer Schroffheit ihr Selbstbild bestätigen möchte, ist nicht
zu entscheiden.
Die Autorin zeichnet sie jedenfalls mit einem ‚nicht unangenehmen‘ Gesicht, unter vollem
‚fahlblondem Haar‘ und spricht ihr ein Übermaß positiver innerer Werte zu. Denen aber
misst Nettchen selbst keine Bedeutung bei, was zählt ist ihre Missgestalt. Wie sehr sie
darunter leidet, wird mit großem Einfühlungsvermögen nahegebracht. Die Verzweiflung über
ihre Einsamkeit wird noch verstärkt, weil jeder persönliche Austausch fehlt, denn Nettchen
hat keine Verwandten mehr und der Kontakt zu Gleichaltrigen bleibt ihr versagt. Dennoch ist
sie gesellschaftlich anerkannt, sie hat Kundschaft in allen Kreisen der Stadt, sie wird wegen
ihrer guten Umgangsformen und ihres sicheren Geschmacks sogar als wesentliche Helferin
beim Hochzeitsfest im Hause Dousemont hinzugezogen. Möglicherweise beruht das auf
ihrem außerordentlichen Fleiß, denn sie arbeitet unermüdlich und versucht damit vor allem
die Leere zu überdecken, die sie dadurch empfindet, dass sie niemanden hat, den sie lieben,
für den sie sorgen kann.
Sehr deutlich schildert Clara Viebig, wie die allgegenwärtige Lust die Gedanken der jungen
Frau besetzt, sei es, wenn sie von einem Traum geweckt wird, sei es während der Arbeit.
Nettchen entwickelt Szenarien, in denen sie sexuelle Erfüllung finden könnte, tut diese dann
aber als Verrücktheiten ab.
Aber wie schon bei Anna Bremm durch eine Art sich selbst erfüllender Prophezeiung der
Wunsch nach einem Mädchen eingetreten ist, so bewirkt auch Nettchen durch die Kraft ihrer
Gedanken deren Gestaltwerdung, was in ihrem Fall sogar noch als eine Beeinflussung des
Schicksals angesehen werden kann.
Die soziale Ausgrenzung, die auf sie zukommt, erkennt sie genau so wie Maria, stellt sich
dieser Belastung aber in souveräner Weise, bejaht es, ihr Kind ohne Vater zu erziehen und
durchzubringen. Wie stark sie als Persönlichkeit ist zeigt sich vor allem in zwei Szenen,
einmal als sie Maria nach deren Zusammenbruch bei der Feier im Hause Dousemont wieder
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aufrichtet und dann während der Geburt ihres Kindes, deren Schwierigkeit und
Gefährlichkeit nicht vornehmlich dazu dienen, die Bedeutung der Mutterschaft
herauszustellen, sondern allein um die Größe dieser Frauengestalt hervorzuheben.
Berücksichtigt man die konkrete Stellung der Frau in dieser geschichtlichen Epoche, kann
man die Situation für Nettchen Schmitz und ihr Kind noch als vergleichsweise günstig
bezeichnen. Anna Bremm oder Frau Loesenich haben zwar die gesellschaftliche
Anerkennung, müssen diese aber mit einem hohen Maß an Selbstaufgabe bezahlen. In dieser
Hinsicht kann Nettchen Schmitz als Entwurf gelten, wie eine Frau am Arbeitsleben teilhaben
kann, ohne auf Mutterschaft verzichten zu müssen.
Orte
Der Keller
Neben dem Haus der Bremms als natürliche Wohnumgebung überhöhen etliche Plätze das
Geschehen und verleihen ihm besondere Bedeutung. Als erstes ist hier der ,Keller‘ –
sozusagen als Raum Plutos – zu nennen, in dem der materielle Besitz der Familie in Form ,des
Fuders‘ lagert. Tief unter der Erde konzentrieren und zeigen sich alle Hoffnungen auf
Wohlstand, aber auch die Verzweiflung, deren Ausmaß sich darin offenbart, dass ein
grundehrlicher Winzer in einer Notlage der Versuchung erliegt, sein Unglück im Alkohol zu
ertränken. Hier hat sich die euphorische Beschreibung des Moselrieslings durch J. C.
Dousemont (S. 63) ins Gegenteil verkehrt. Folgerichtig begeht Simon Bremm auch einen
Selbstmordversuch, nicht nur, weil sich herausstellt, dass der gute Wein verdorben ist,
sondern weil er damit auch seiner emotionalen Bindung an seinen Beruf beraubt ist.
Der Keller repräsentiert durch sein Dunkel all die Bereiche des Denkens, Empfinden und
Tuns, die nicht ans Tageslicht gelangen sollen, die aber, so wie der Keller zum Haus zur
Ausstattung des Menschen gehören.
In welchem Maße dieser Bereich auf das Handeln des Menschen Einfluss nimmt zeigt Clara
Viebig in der Situation, als die Not der Familie noch die Alternative zulässt, zwischen dem
Verkauf entweder des Weins oder des schlachtreifen Schweins zu wählen. Alle
Vernunftgründe sprechen in dieser Situation dafür, das Fuder zu verkaufen, man hätte nicht
nur Bargeld für die fälligen Steuern, sondern auch noch für notwendige Anschaffungen, und
das Schwein hätte die Ernährung der Familie für das ganze Jahr sichergestellt. So lange
Bremm vor und in seinem Keller noch Herr seiner Sinne ist, folgt er dieser nüchternen
Argumentation, als ihn aber die Gärgase betäuben, überwältigen irrationale Gründe seine
Entscheidung und er wirft sich schützend über sein Fuder, wie ihn dann seine Frau findet.
Die durchschaut die Lage sofort und erkennt auch die Motivation, die ihren Mann in den
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Keller getrieben hat und ertränkt ihr eigenes Wünschen und Wollen in der resignativen
Bemerkung: …die Hauptsach is: Du behältst dein Fuder! (S. 49)
Zwei Kapellchen
Dem Himmel näher im wahrsten und übertragenen Wortsinne sind zwei Kapellchen. Das
eine liegt hoch auf dem Berg über Munden, wo Anna Bremm, während sie mit Maria
schwanger gewesen ist, sehr oft gebetet hat, weshalb ihr Kind auch ,bild-‘schön geraten ist.
Entscheidende Begegnungen zwischen Maria und Kaspar finden hier statt, zuletzt verloben
sich die beiden dort.
Die andere Kapelle befindet sich oberhalb des Hauses Dousemont in der Kreisstadt, wo
weniger der Blick auf die Menschen, sondern der auf die Natur von Bedeutung ist. An diesem
Ort geschieht die Zeugung von Marias Kind und später begibt der alte Dousemont sich
dorthin zum Sterben, womit diese beiden entscheidenden Daten des Lebens – Geburt und
Tod – zusammengebracht sind. Nahe liegend ist die Aufforderung, diesen Platz als Fenster
zur religiös gedachten Ewigkeit anzusehen.
Der Fluss
Auch der Fluss selbst muss als markanter Ort angesehen werden, er zeigt sich sowohl in
seiner wohltuenden als auch in der zerstörenden Kraft. In Hunderten von Millionen Jahren
hat er vor allem im Bereich der Mittelmosel ein enges, stark mäandrierendes Tal geschaffen,
das heute sehr pittoresk, teilweise auch lieblich wirkt und allgemein als schöne Landschaft mit
einem besonderen Charakter empfunden wird.
Schon auf den ersten Seiten wird die Mosel mit ihren Rebhängen beschrieben, die Arbeit dort
ist beschwerlich, es lassen sich aber hervorragende Weine erzeugen, wie J. C. Dousemont sie
beschreibt (S. 63). Dieser Alte berauscht sich an der Schönheit des Flusses und der ihn
umgebenden Landschaft, er spiegelt die Schönheit des Lebens, mit der er verschmelzen
möchte. Auch Maria empfindet bei ihrem Bad in der Mosel (S. 9) die reine Lust zu leben und
stößt einen ,laut juchzenden Schrei‘ aus und sehnt sich danach, dieser Empfindung Dauer zu
verleihen.
Die zerstörende Kraft des Wassers zeigt sich in dem tödlichen Unfall Heinrich Dousemonds,
der in der Mosel ertrinkt (S. 195) und in dem Moselhochwasser, das einen die Existenz vieler
Menschen zerstörenden wirtschaftlichen Schaden anrichtet.
Es scheint, als bedinge der Genuss der landschaftlichen Schönheit und ihrer Eigenart auch
die Bereitschaft, ein höheres wirtschaftliches und existenzielles Risiko einzugehen.
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Existenzielles
Der Tod
Im Verlauf des Romans sterben fünf Menschen auf sehr unterschiedliche Weise, was
vermuten lässt, dass die Autorin hier auch entscheidende Aussagen über das Leben und die
Art, es mit Sinn zu füllen, trifft. Gelegentlich lassen der Umfang der Bearbeitung bzw. die
Dramatik darauf schließen, welche Wertung Clara Viebig abgeben möchte. Schon vor Beginn
der Romanhandlung liegt der Tod von vier Angehörigen der Familie Bremm, die das
Geschehen nur indirekt berühren.
Anna Bremms Eltern sind auf dem Petersberg in Munden begraben. Sie pilgert sehr oft
dorthin, vor allem aber, als sie mit Maria schwanger ist. Sie betet dann für die Toten und ihr
ungeborenes Kind gleichermaßen und betont so die Kontinuität des Lebens, an der sie nur
eine begrenzte Zeitspanne teilhat. Ein großer Teil des Gewichts, das ihrer Persönlichkeit
zukommt, rührt aus ihrem unverbrüchlichen Vertrauen auf die transzendente Seite des
Lebens.
Ihre beiden im Ersten Weltkrieg gefallenen Söhne ziehen durch ihr Fehlen eine erhebliche
Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen nach sich. Der persönliche Verlust der
Toten wird ebenso knapp artikuliert wie die politische Bewertung des Krieges, dessen Grund,
Ursache und Bedingung offensichtlich blind akzeptiert werden.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist für die Bevölkerung Deutschlands wegen der hohen
Reparationsleistungen, der unklaren politischen Lage und vor allem wegen der Inflation
allgemein sehr hart, und Clara Viebig lässt den Leser das Zugrundegehen an der Not
mitempfinden, indem sie ihre Figuren in einer Weise schildert, die starkes Mitempfinden
auslöst.
Der erste Tod im Verlauf der Handlung ist der von Jakob Bremm. Er stirbt trotz seines
ausgeprägten Geizes als Allerärmster, denn er hat nicht nur wegen der Inflation sein
Vermögen verloren, er hat sich darüber hinaus durch seine Sparsamkeit selbst von allen
sozialen Kontakten ausgeschlossen, er ,hatte ja nichts lieb gehabt, er hatte keinem Menschen etwas
Gutes getan‘ (S. 110). Sein Tod berührt niemanden sonderlich tief.
Auch das elende Hinsiechen und Sterben der Frau Loesenich wird im Dorf nur mit wenig
Anteilnahme begleitet. Entgegen der Norm hat sie mehr Kinder geboren, als für den Betrieb
notwendig sind, sodass sich der Kindersegen in diesem Haus in sein Gegenteil verwandelt.
Vielleicht durch die unsinnige Weinsteuer bedingt, geht die Wirtschaft der Loesenichs
zurück, jedenfalls werden selbst in einem halbwegs guten Jahr nicht alle Fässer gefüllt,
Simon Bremm kann noch eins ausleihen. Letztlich bewirkt dieser Winzer durch seine
offensichtliche Unkenntnis über die Unverträglichkeit der Gärgase selbst den Tod seiner
Frau. Die Familie zerfällt.
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Der Tod der alten Schommer ist schon gar nicht mehr als menschlich zu bezeichnen, denn sie
geht ein wie ein krankes Tier. Dennoch verleiht Clara Viebig ihrem Sterben noch eine gewisse
Größe, weil bei dieser Figur Mutterliebe den zweifellos vorhandenen Willen zum Überleben
besiegt. Was aber mit ihrem Leichnam geschieht, wie ihr Sohn versorgt wird, findet keine
Erwähnung mehr, diese Frau bleibt eine Ausgestoßene auch in ihrem Tod, sie wird
schlichtweg nicht mehr wahrgenommen.
Der junge Arzt Heinrich Dousemont (mit dem viel bekannteren Verführer Faust teilt er den
Vornamen) ertrinkt in der Mosel, nachdem er einen langen und anstrengenden Arbeitstag
hinter sich gebracht hat. Sein Tod im Wasser könnte einerseits als Strafe für das an Maria
begangene Unrecht gesehen werden, andererseits aber darauf hindeuten, dass seine Seele
durch die reinigende Kraft reingewaschen wird. Damit wäre der Zeugungsakt seine
wichtigste Daseinsbestimmung gewesen, vielleicht im Sinne einer notwendigen Erfüllung des
Schicksals. Das Wasser wäre dann als der Urgrund des Lebens zu sehen, der den jungen
Mann wieder in sich aufnimmt, worin man eine weitere Parallele zu Faust sehen könnte, denn
auch der wird an seinem Ende für seine Untaten nicht bestraft, sondern geht ein in die
allumfassende Gnade.
Die Autorin setzt als selbstverständlich voraus, dass Heinrich Dousemont von seiner Witwe
sowie von der Bevölkerung betrauert wird, erwähnt nur die besondere Form der Trauer des
Vaters, der in Anerkennung der Gesetze des Lebens auch den Tod seines Sohnes akzeptiert.
J. C. Dousemont selbst hat eine genaue Vorstellung von seinem eigenen Tod, die er seinem
Sohn gegenüber einmal andeutet (S. 64). Um seine Vorstellung vom Sterben umzusetzen,
bietet er seine letzte Kraft auf und lässt auf seinem geliebten ‚Herrenberg‘ ein Mausoleum6
errichten, das der Allgemeinheit als Aussichtsturm dienen soll.
In grandioser Weise inszeniert Dousemont genau dort sein Sterben, als er das Ende seines
Lebens nahen fühlt (S. 255). Sein Dasein hat sich erfüllt, die Arbeit ist erfolgreich zu Ende
gebracht, sein Sohn ein tüchtiger Arzt geworden, der Ruhestand mit sozialen Kontakten gut
gefüllt. Die Menschen der Region kennen und achten den ,Alten vom Berge‘.
In seinem Tod transzendiert J. C. Dousemont sich selbst, indem er mit der heimatlichen
Landschaft, dem Weltganzen und mit der alles umfassenden Liebe verschmilzt. Die Art der
Schilderung dieses Hinübergehens verdiente durchaus den Titel ,literarische Zelebration‘.
Wird in J. C. Dousemonts Sterben ein Höchstmaß an Autonomie deutlich findet dies eine
Entsprechung in der Zeugung Josefines, zu der Nettchen sich trotz schlechtester
Bedingungen ganz bewusst entschieden hat. Für das Leben selbst kann man daraus die
Forderung ableiten, sich von üblichen Konventionen, die übrigens das größte Leid Marias
bedingten, frei zu machen, durch Offenheit ein höheres Maß an Empathie zu erreichen und
sich mittels Solidarität von allzu drückender Fremdbestimmung zu befreien.
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Lust und Angst
Lust gilt als die eine Grundlage von Motivation, die als positive Kraft menschlichem Tun
Richtung und Intensität verleiht, während der zweite Grundantrieb, die Angst, Handlungen
in Gang setzt, die das zu vermindern oder zu vermeiden suchen, was Schmerz bereitet oder
Aversion auslöst.
Clara Viebig beschreibt Lust als etwas grundsätzlich Natürliches, wenn sie Heinrich
Dousemont über die zurückhaltende Kühle seiner Braut aufstöhnen lässt: „Überhaupt keine
Natur! Keine Natur, die der Allgewalt des Triebes widerstandslos folgt, sich freudig hingibt,
wie dieses Land der Sonne, die das Traubenblut kocht“(S. 69). Dieses allgegenwärtige
Naturphänomen zeigt Clara Viebig in vielen, gelegentlich kontrastierenden Farben, wobei
Lust nicht allein auf das Sexuelle bezogen ist, sie äußert sich in verschiedenen
Lebenssituationen und Lebensstufen je unterschiedlich.
Der deutlich als Noch-Kind gezeichneten Maria ist sehr klar bewusst, was sie von sich
fernhalten will, weshalb sie schon im ersten Bild äußert, niemals Winzerin werden zu wollen.
Andererseits zeigt sie gleichzeitig die Genussmöglichkeiten des Winzerstandes: Die Sonne,
die Landschaft, ihr Eingebundensein in Familie und dörfliche Gemeinschaft. Das alles
empfindet sie als Glück, das ihr, während sie in der Mosel schwimmt, einen Schrei der
Verzückung entlockt, den ihr Vater noch in der obersten Weinbergslage mit Wohlwollen
vernimmt.
Lebenslust zeigt sich hier und später noch einmal in dem Gässchen, in dem Nettchen Schmitz
wohnt, in ungebrochener, kindlicher Form und hat etwas Vorläufiges an sich, weil sie weder
durch die Ratio noch durch Lebenserfahrung begrenzt ist.
Anna Bremms Lustempfindung ist von der Wirklichkeit des Lebens im wahrsten Wortsinne
übermannt, denn sie wagt es nicht mehr, intime Regungen auf ihren Mann zu richten und
anerkennt die entsprechende Zurückhaltung seinerseits (vgl. S. 82). Für sie ist Lust sehr eng
mit Zeugung verknüpft, und in ihren Augen sind die Zeiten zu schlecht, um Kinder in die
Welt zu setzen, zu gering auch die Aussicht, mit deren Hilfe irgendwann wieder den Betrieb
so in Gang zu bringen, dass man Notzeiten gelassener überstehen kann. Ihre ursprüngliche
Lebenslust und ihr Lebensmut sind also der Angst gewichen, das für den Erhalt der Familie
Notwendige nicht bereitstellen zu können. Jetzt zeigt sie ihre Liebe, indem sie auch
ungewohnte Arbeit im Weinberg übernimmt, und sie fordert die Bereitschaft zu höchster
Anstrengung aber auch von Simon, als der, von Verzweiflung und Schuldgefühlen
überwältigt, sich umbringen will. Die Kontinuität des Lebens zu garantieren ist ihr eine
Verpflichtung vor Gott, weshalb ihrer Überzeugung nach die Heiligkeit des Lebens das
ehrende Gedenken an die Verstorbenen ebenso einschließt wie die lebenslange
Verantwortung für die Nachkommenschaft. Ihre Lust äußert sich in religiöser Inbrunst, allein
im Gebet sucht sie Halt, und nur die Gewissheit, in Gott aufgehoben zu sein, lässt sie die Not
der Zeit ertragen.
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Simon Bremms Sicht auf die Welt ist weitaus konkreter und deshalb auch begrenzter als die
seiner Frau. Er lebt für den Beruf, den er über das Persönliche stellt, und findet seinen
Rückhalt in der Tradition. Ist von seinem Weinberg, seiner Kelter oder gar von seinem Wein
die Rede, spürt man förmlich eine Zuneigung, die sonst nur auf eine geliebte Person gerichtet
wird. Bei ihm ist die Lust auf die Arbeit ausgerichtet, was ihn seelisch verarmen lässt. Seinem
Sohn Josef gegenüber kann er überhaupt kein Verständnis aufbringen, und auf Marias
Fehltritt reagiert er in einer Weise, als ob er derjenige wäre, der die schlimmen Folgen zu
erleiden hätte. Er sieht ausschließlich sich selbst und kann seine Anteilnahme nur in der
perversen Weise ausdrücken, indem er sich durch einen Vollrausch in vergleichbarer Art
erniedrigt wie seine Tochter.
Bei Simon Bremm hat sich die Lebenslust in Arbeitswut gewandelt, was ihm aber ganz und
gar richtig erscheint, fühlt er sich doch als wichtiges Glied in der Geschlechtertradition und
wird in seiner Haltung noch bestärkt durch die allgemein verbreitete und anerkannte
(protestantische) Arbeitsethik, gemäß der die Lust eher im Verdienst zu suchen ist.
Den Eheleuten ist die Lust aneinander abhanden gekommen, was sie selber sicher als durch
die Zeitläufte bedingt als natürlichen Vorgang ansehen. Es ist aber nicht zu verkennen, in
welch hohem Maß die gegenseitige Unlust auf den anderen es erschwert, einen Lebenssinn zu
erkennen und diesen gemeinsam zu verfolgen. Statt im Gespräch die Situation zu reflektieren
und den Weg in die Zukunft auszuloten, verharren die beiden in ihren festgelegten Rollen
und bebrüten das allgemeine Unglück in dumpfem Schweigen.
In einer Figur zeigt Clara Viebig auch eine Anomalie der Lust, die als Sucht zutage tritt:
Jakob Bremm wird in seinem Tun und Lassen hinreichend beleuchtet, sein Geiz bestimmt
sein Leben, isoliert ihn von der Gemeinschaft und lässt ihn schließlich in Armut enden. Seine
Selbstbezogenheit erhellt ein Bild so überdeutlich, dass es an dieser Stelle statt eines
erklärenden Kommentars zitiert wird:
Langsam kroch der Alte in seinen Berg. Doch kaum, daß er in der ersten Zeile seiner
Weinstöcke war, wurde er behende, es strömte ihm von hier wie eine neue Kraft. Hastig
faßte seine dürre Hand, auf deren Magerkeit die Adern gleich Strängen lagen, nach den
Trauben, schloß sich so fest darum, daß die Beeren zerquetschten. Schmatzend schleckte
er sich den sauren Saft von den Fingern: ei, wie süß, wie ganz köstlich süß! (S. 27)
Lust ist in Gier umgeschlagen, es gelingt nicht mehr, die Welt und sich selbst unverfälscht
wahrzunehmen. Der Sturz in den Abgrund beendet ein Leben, das schon lange als
unbeseeltes Vegetieren gegolten hat. Bezeichnend auch, dass Jakob Bremms Weinberg von
Totenvögeln bevölkert ist, und die alte Schommer dort das tote Kind verscharrt, das aus nicht
näher bezeichnetem Grund schon als Fötus sterben musste.
Gier, so die Aussage dieses Erzählstranges, ist als Gegenpol zur Lust dem Tod gleichzusetzen,
vielleicht übertrifft dieses Laster noch dessen negativen Aspekt, weil ja nicht Erstarrung
eintritt, sondern wie beim Hass die Kraft des Lebendigen zur Schädigung und Vernichtung
des Lebens genutzt wird.
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Isoliert ist auch Nettchen Schmitz, aber voll ungeheurer Sehnsucht auf ein erfülltes Leben.
Da sie dem Schönheitsideal nicht entspricht, schließt sie jede Möglichkeit für sich aus, dass
sich ihr Verlangen, einen Mann und Kinder zu haben, je erfüllen wird. Umso stärker wird sie
von begehrlichen Gedanken heimgesucht, die ihr den Schlaf rauben und sie auch während
ihres Arbeitens quälen, und sie fürchtet, daran verrückt zu werden. Bewusst oder unbewusst
betäubt Nettchen ihre Lust, indem sie unermüdlich arbeitet, oft bis spät in die Nacht, um sich
dann auf ihrer Bank vor dem Haus in der kühlen Nachtluft zu erholen. Damit gibt sie dem
Schicksal die Chance, ihr einen Mann zuzuführen, der zwar äußerlich sehr
heruntergekommen erscheint, aber dennoch in der Dunkelheit der Nacht eine schöne Seele
entfaltet. Nettchen genießt die Nähe zu diesem unbekannten Gegenüber, sie fühlt die
Einmaligkeit dieses Ereignisses, und wie vom Blitz erleuchtet fasst sie den Entschluss, sich
über alle gesellschaftlichen Normen hinwegzusetzen und ihre Begierde zu erfüllen. Jetzt ist
sie im Leben angelangt, und wenn auch noch eine schwere Geburt und das Gerede der Leute
zu überstehen sind, fühlt sie genügend Kraft, sich und ihrem Kind einen Weg in die Zukunft
zu öffnen.
Mit Nettchen Schmitz zeichnet Clara Viebig eine ihrer stärksten Frauengestalten, indem sie
ihr als Attribute Unabhängigkeit vom gängigen Schönheitsideal, wirtschaftliche
Selbstständigkeit und erfolgreiche Durchsetzung intimster Wünsche beigibt. Hat eine Frau
diese Trias in ausgewogener Form verinnerlicht, wird sie in der Welt auch allein bestehen
können oder aber als ebenbürtige Partnerin des Mannes gemeinsam das Leben gestalten.
Sind die Attribute unausgewogen oder fehlt das eine oder andere, kann selbstbestimmtes
Leben nicht gelingen, wie der Fall der alten Schommer, der Hexe, deutlich macht. Über deren
Werdegang gibt der Roman nur wenig konkrete Auskunft und man ist darauf angewiesen,
aus den Gegenbildern eine mögliche Aussage abzuleiten: Die lebenslängliche Verachtung, die
ihr aus dem Winzerdorf entgegenschlägt, muss mit den allgemeinen Werten, die dort gültig
sind, zusammenhängen. Möglicherweise war sie in ihrer Jugend von schönem Aussehen und
sich ihrer Attraktivität auf Männer wohl bewusst. So hat sie nach Belieben ihre Lust
kennenlernen und ausleben können, bis der Mangel an (Selbst-) Verantwortlichkeit eine
Grenze gesetzt hat, die eine Integration in die Gesellschaft verunmöglicht. Als sitzengelassene
Schwangere hat sie jetzt im Dorf nur zwei Lösungen, einmal als Ausgestoßene zu leben, wenn
sie sich entscheidet das Kind auszutragen oder aber mit Selbstvorwürfen beladen und
erpressbar, wenn sie sich zu einer Abtreibung entschließt. Die Belastung wird nicht viel
geringer sein, allerdings kostet es zusätzliche Kraft, mit Selbstvorwürfen zu leben. Getrieben
von ihrer eigenen Lust und gefangen von der Unlust, regelmäßig zu arbeiten verliert die
Schommer mehr und mehr die Fähigkeit, ernsthaft für sich und ihr Kind zu sorgen, vegetiert
am Schluss mehr oder weniger und kann sich nur dank des Selbsterhaltungstriebes am Leben
erhalten. Die alte Schommer bildet mit Jakob Bremm ein polares Gegensatzpaar; geht er an
seiner Raffgier zugrunde, scheitert sie an dem totalen Fehlen von Arbeitslust.
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Maria beschreitet mit ihrer Schwangerschaft einen langen Leidensweg, der sie dazu bringt,
ihren Vorsatz, niemals Winzerin zu werden, von Grund auf aufzugeben, stattdessen die Lust
auf Arbeit, sogar auf harte Arbeit, in ihr Leben zu integrieren. Dabei gelingt es ihr aber,
gleichzeitig ihre Lebenslust und das auf den Mann gerichtete Begehren nicht zu aufzugeben
(S. 255), sodass sie eine lebbare Mitte findet. Dies lässt sie zur starken Frau werden, die sogar
von Simon Bremm anerkannt wird. Sie reiht sich damit in das Ensemble großer
Frauenpersönlichkeiten der Romane Clara Viebigs ein.
Eine Figur, deren Haltung zum Leben als vollendet angesehen werden kann, ist der alte
Dousemont, der im bestverstandenem Sinne das carpe diem vertritt, allerdings ist zu
unterstellen, dass diese Einstellung auch gegolten hat, als er noch mit seinem Rheindampfer
unterwegs war. Da wird er mit voller Hingabe seinen Kahn befüllt und geleert haben und sich
seiner Bedeutung im Räderwerk des Lebens gewusst gewesen sein. Seine Verwurzelung in
der Heimat wird er immer gespürt haben, er hat sich aber, was sein Beruf zum Ausdruck
bringt, auf die Welt eingelassen, um die Nachteile der Heimatverbundenheit, die ja auch
geistige Enge im Gefolge hat und letztlich in Abhängigkeit führt, zu vermeiden. Seine
Stellung in der Welt lässt ihn als Autorität erscheinen, und was über sein Leben bekannt
geworden ist, erscheint wie ein Testament für die Nachwelt. Dessen Hauptthese lautet etwa,
zwischen Arbeit und Genuss eine Synthese zu finden, keinem der beiden sklavisch verhaftet
zu sein und zu allem, was man tut, in Abstand zu treten, um darüber zu reflektieren und
seinen Erfahrungsschatz zu bereichern.
J. C. Dousemont ist an seinem Ende von der gleichen Lebenslust erfüllt, die zu Beginn des
Romans Maria bei ihrem Bad in der Mosel gezeigt hat, nur hat sie eine gänzlich andere
Qualität, denn sie basiert auf Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens. Gerade diese
ermöglicht ihm dessen krönenden Abschluss: Mit Lust zu sterben.
Clara Viebigs Vision der Geschlechterbalance
Bei der Darstellung des Schicksals der Winzerfamilie wird es der damaligen Leserin im
Gegensatz zu einer heutigen kaum aufgefallen sein, wie konsequent Anna und Simon Bremm
den etablierten Rollenerwartungen entsprechen. Beispielsweise kann nur eine Frau den
beschwerlichen Weg zum Bergfriedhof auf sich nehmen, um das Grab der Eltern zu pflegen;
andererseits wäre sie beim Marsch auf Bernkastel wohl eher fehl am Platze, würde den Erfolg
des Unternehmens möglicherweise sogar gefährden. Dabei ist unverkennbar, in welch hohem
Maße Clara Viebig hier wie in all ihren Romanen und Novellen Kritik an den bestehenden
Verhältnissen übt – und nicht allein an den politischen.
Mit besonderer Intensität beleuchtet sie die Rolle der Frau, wobei ihr die differenzierte
Innensicht wichtiger ist als eine plakative soziale Forderung, jedoch tönt der Ruf nach
Veränderung bei der Beschreibung der verschiedenen Frauenschicksale implizit immer mit.
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Im Kontrast zur gerade aufkeimenden feministischen Strömung, die vor allem die Differenz
zwischen den Rechten der Frau und denen des Mannes herausstellt, stellt sie das Defizitäre
beider Geschlechter und die Nachteile der überkommenen Rollenklischees vor Augen. Denn
die politischen Zeitumstände verschärfen vor allem in der Bevölkerungsschicht, auf die die
Dichterin den Fokus richtet, die prekäre Lage von Männern und Frauen gleichermaßen.
Der Androzentrismus, den man als die universale Ursünde der Zivilisation ansehen kann,
erreichte in der wilhelminischen Zeit seine Dekadenzstufe. Mit dem größeren Maß an
Freiheit(en), die sich der Mann im Laufe der Entwicklung angeeignet hatte, ging ein
Rückgang an Verantwortlichkeit für das Ganze einher, dem man durch einen ,gottgewollten‘
Machtanspruch begegnete. Die Ausrichtung der Gesellschaft auf patriarchale Werte und die
absolute Vorherrschaft männlicher Reaktionsmuster ist aber nur vordergründig – auf der
Ebene des gesellschaftlichen Status – eine Bevorzugung des Mannes, denn sie forderten
andererseits ja auch die Einhaltung recht lebensfeindlicher Normen, angefangen von
studentischen Pauk- und Saufzwängen bis zu dem Zwang, schon bei einer verbalen
Äußerung, die als Beleidigung verstanden werden konnte, den Kontrahenten zum Duell zu
fordern. Titelsucht und Standesdünkel manifestierten sich in Uniformdetails oder
Verhaltensregeln, deren Rechtfertigung ein Heutiger nicht mehr nachzuvollziehen vermag.
So ist es eine richtige Ahnung gewesen, als ein französischer General das für die deutsche
Botschaft in Paris bestimmte Gemälde, das Kaiser Wilhelm II in Paradeuniform und
entsprechender Haltung zeigte, folgendermaßen kommentierte: „Das ist kein Porträt, sondern
eine Kriegserklärung!“ [Friedrich Hartau: Wilhelm II. rororo Verlag; 9. Auflage. 2007, S. 42.
zitiert aus Wikipedia] Was hier politisch-militärisch gemeint ist, gilt gleichermaßen auch als
Kriegserklärung an den weiblichen Teil der Bevölkerung, der sich anzupassen und zu
unterwerfen hatte.
Die resultierende politische Katastrophe ist ja denn auch eine patriarchale. So wie die
kaiserliche Monarchie scheitert, so schwindet auch die Vorherrschaft des Mannes, allerdings
ist der Zeitraum, in dem letzteres vonstatten geht, von erheblicher Dauer.
In Clara Viebigs Roman haben die Erschütterungen der „Urkatastrophe des zwanzigsten
Jahrhunderts“ gerade ihren ersten Höhepunkt überschritten, und es stellt sich heraus, dass
der Mann der geänderten Situation durchweg weniger gewachsen ist und sich zu seinem
persönlichen Nachteil von seinen eigenen Rollenerwartungen nicht emanzipieren kann. Je
tiefer das Individuum in der patriarchalen Struktur verwurzelt ist und je mehr Vorteile für die
Selbstbestimmung und die Gestaltungsmöglichkeit durch diese ‚gottgegebene‘ Ordnung
wahrgenommen werden können, umso schwerer ist es, dieses widernatürliche
Ungleichgewicht zu erkennen und entsprechend zu handeln. Wer in diesem System
benachteiligt ist – die Frau – entwickelt den schärferen Blick und kann viel eher einen
Lösungsweg aufzeigen.
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Clara Viebig nähert sich in ihrem Roman einer Aussage, indem sie sowohl Lösungen vorstellt,
wo Frauen selbstständig und ohne Bindung an einen Mann ihren Lebensweg gehen, als auch
solche, wo der Grad an Symmetrie zwischen den Geschlechtern über das Gelingen der
Beziehung entscheidet. Dabei werden Frauen gezeigt, als deren wichtigstes Attribut die
Intensität ihrer Lebensbejahung anzusehen ist, und das Maß, in dem sie bei deren
Verwirklichung behindert oder gefördert werden, entscheidet letztlich über den Erfolg der
Beziehung als Ganzes.
Zunächst erscheint es so, als sei Nettchen Schmitz das Modell der ‚neuen Frau‘, denn sie steht
ökonomisch selbstständig in der Welt, sie findet Anerkennung in ihrem sozialen Umfeld, von
dem sie andererseits nicht abhängig ist, denn sie entscheidet sich bewusst zu einem
Normverstoß, um ihrer persönlichen Autonomie Geltung zu verschaffen. Sie nutzt eine
zufällige Gelegenheit, an ein Kind zu kommen, ohne sich an den Vater zu binden. Aber dieses
Muster, so stark es auch wirken mag, kann die endgültige und allgemeine Lösung nicht sein,
denn sie wurzelt ja in dem äußerlichen Defizit des Rundrückens und der schiefen Hüfte.
Daneben kann es schon im Sinne einer ausgewogenen Entwicklung des Kindes kein Modell
sein, wenn der Vater nicht vorhanden ist.
Insgesamt aber verspricht dieser Lebensentwurf zu gelingen, weil hier das Dasein bejaht wird
und die Lebensfreude durch die Geburt der kleinen Josefine steigt.
Peter, der Trottel, war wohl völlig unerwünscht und hat beim Versuch der Schommer, ihn
abzutreiben, einen Schaden erlitten. Die Einstellung dieser Frau zum Leben stellt einen
Gegensatz zu Nettchen Schmitz dar, die Schommer hat sich mit ihrer Haltung selbst zur
Ausgestoßenen gemacht, kennt aber nichts anderes, als ihre Dienste als Engelmacherin
anzubieten, obwohl sie ihrer eigenen Erfahrung wegen zu den seelischen und sozialen Folgen
eigentlich eine Alternative empfehlen müsste. Da die Behinderung ihres Sohnes ein erhöhtes
Maß an Zuwendung notwendig macht, ist ihr dieser umso mehr ans Herz gewachsen, ihre
Mutterschaft ist intensiv, aber äußerst leidvoll und endet in Verzweiflung.Größte seelische
und wirtschaftliche Not sind auch bei Anna und Simon Bremm vorhanden, die von Clara
Viebig sehr deutlich porträtiert werden. Zwar ist diese Familie im Gegensatz zu den beiden
vorangegangenen Beispielen komplett, aber doch innerlich auseinander gefallen, weshalb sie
nicht als vorbildlich gelten kann. Zwar würde jeder der beiden und ihre Ehe nach dem Urteil
der Zeit als vorbildlich gelten, dennoch zeichnet die Autorin dieses Modell als zum Scheitern
verurteilt.
Zwar erweist sich die Frau in verschiedenen Bezügen als die stärkere Persönlichkeit, aber die
Tatsache, dass ihr Denken und Tun so gut wie nie auf die Geschicke der Familie einwirkt,
ihre Bedürfnisse stets denen des Mannes nachgeordnet sind, ihre Arbeit grundsätzlich eine
geringere Wertschätzung erfährt, zeigt doch eine Nichtanerkennung der
geschlechtsbedingten Verschiedenheit. Über die gemeinsamen Kinder entscheidet der Vater
nach seinen Idealen, obwohl sie das schmerzt und alle existenziellen Entscheidungen werden
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nur im Sinne des Vaters getroffen, eine gemeinsame Lebensplanung wird nicht einmal
gedacht, da die Rollen gesellschaftlich vorgegeben sind.
Simon und Anna Bremm arbeiten zwar zum Nutzen des Betriebs und der Familie zusammen,
aber nicht gleichberechtigt. Das aber ist keine Grundlage, die Dauer verspricht, und selbst
wenn Anna Bremm meint, ihren Mann ‚von Herzen‘ zu lieben (S. 19), reicht das als
Motivation nicht aus, die Lebenswirklichkeit gegen die eigene Natur zu bestehen.
Am Schluss ist sie gänzlich ausgezehrt und aufgebraucht, kann die Wendung zum Guten nur
noch in resignierter Passivität von zu Hause aus verfolgen. Dieses Auseinanderfallen der Ehe
kann durchaus eine Folge der durchgestandenen Not sein, auf einer anderen Ebene kann man
aber auch Ursache und Folge umkehren: Die fehlende Gleichwertigkeit in der Partnerschaft
hat eine positive Einstellung zum Leben, die Lust zu leben nicht entstehen lassen oder im
Laufe der Zeit absterben lassen. Lust am Leben aber ist notwendig, wenn man der
Verzweiflung etwas entgegensetzen will.
Maria, die schon zu Anfang des Romans bei ihrem spontanen Bad in der Mosel Lebenslust als
sie selbst konstituierendes Merkmal geoffenbart hat, findet zum Schluss ihre Mitte, indem sie
die Arbeit des Winzers akzeptiert und so ansatzweise den Vorrang der Männerarbeit aufhebt.
Sie ist jetzt im gleichen Stadium wie Nettchen Schmitz, hat aber noch einen weiteren,
entscheidenden Schritt zur Vollendung ihrer Persönlichkeit vor sich: Kaspar Dreis taucht auf,
der ja Marias Schönheit wegen gefühlt hat, nur mit ihr einen gemeinsamen Lebensweg
beschreiten zu können. Wenn als Happy End also – vielleicht ein wenig konstruiert – die
Heirat der beiden angedeutet wird, geht es noch um mehr, nämlich ein Lebensgesetz
darzulegen: Der Erfolg im Leben, so könnte Clara Viebigs These lauten, stellt sich dauerhaft
erst dann ein, wenn Frau und Mann als Paar vereinigt sind und gemeinsam und
gleichberechtigt – und zwar unter gegenseitiger Anerkennung der jeweils
geschlechtsspezifischen Präferenzen – Projekte in Angriff nehmen und durchführen.
Während die vorangehende Generation mit Anna und Simon Bremm in ihrer Vereinzelung
die Basis für eine Weiterentwicklung verloren hat, stellen Maria und Kaspar modellhaft einen
Zukunftsentwurf dar.
1 Zwar wurden schon 1852 an der Mosel vier Winzervereine gegründet, die aber sehr bald scheiterten,
weil sie ihren Mitgliedern für deren Wein mehr auszahlten, als sie später auf dem Markt erzielten.
2 Bremm praktiziert das selber für seinen ‚Fluppes‘: S. 20, „Er hatte ja den Trester mit reichlich
Zuckerwasser gelöst und nochmals gekeltert.“
3 Karikierend werden diese Praktiken in einem damals sehr bekannten Farbdruck mit dem Titel ‚Das
Geheimnis des alten Weinhändlers‘ beschrieben. Den vor seinem Sterbebett knienden Söhnen verrät
der Vater: „Mer kann och us Druuwe Wing maache!“
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4 Wie Bremm, Dreis, Loes[e]nich ist auch der französisch klingende Namen Dousemont ein alter
Moselaner Ortsname, allerdings ist 1925 der Ort Dusemont in Brauneberg umbenannt worden.
5 Ansatzweise ist diese Haltung auch bei Kaspar Dreis zu erkennen, der, um mit Maria eine Familie
gründen zu können, bereit ist, an der Bahn, beim Straßenbau oder im Steinbruch zusätzliches Geld zu
verdienen.
6 Bei der literarischen Vorlage für das Mausoleum Dousemonts handelt es sich um den 1906 erbauten
(von der Moselbahn AG geförderten) Collisturm in Zell. Vormals stand an dieser Stelle eine
Schutzhütte, die aber durch Brandstiftung zerstört worden ist.